Um die Klima- und Ressourcenziele im Bausektor zu erreichen, sind Innovationsschübe in allen Bereichen von der Material- und Konstruktionsentwicklung bis hin zur kreislaufgerechten Gestaltung und Anpassungsfähigkeit ganzer Gebäude notwendig. Das erfordert akteurs- und disziplinübergreifende Experimentierräume für das Planen und Bauen in den planetaren Grenzen sowie neue Rahmenbedingungen und erweiterte Handlungsfelder. 

Als Formate für die Entwicklung und Erprobung innovativer Ansätze sind Reallabore insbesondere im Mobilitäts- und Energiesektor bereits etabliert und werden entsprechend gefördert, im Bausektor finden sie bisher kaum Anwendung. Es braucht einen systemischen Ansatz auf materieller, konstruktiver und prozessualer Ebene für die Erstellung eines methodischen Rahmenwerks zugunsten einer zukunftsweisenden und nachhaltigen Entwicklung des Bausektors.

Das Natural Building Lab erforscht in verschiedenen Projekten Reallabore im Bauwesen als Inkubatoren für eine nachhaltige Neu- und Bestandsplanung von Gebäuden die die Anwendung und Umsetzung experimenteller (Bau-)Forschung in der Praxis methodisch rahmen.

Bausektor-spezifische Auslegung des Reallabor-Ansatzes des Natural Building Labs als Transformationsstrategien an der Schnittstelle zwischen Praxis, Forschung und Lehre.

Wechselbeziehungen zwischen Bausektor und gesellschaftlicher Transformation

Reallabore analysieren und bewerten Nachhaltigkeitsprobleme im Bausektor und entwickeln konkrete Lösungen [1 – Vgl. Grunwald]. Im Hinblick auf die Wechselbeziehung zwischen gesellschaftlicher Transformation und dem Bausektor leisten Reallabore so einen Beitrag auf der Ebene des System-, des Orientierungs- und des Transformationswissens.
Auf der Ebene des systemischen Wissens können sie zum Verständnis der Interaktion zwischen der gebauten Umwelt und ihrem ökonomischen, ökologischen und sozialen Kontext beitragen. Auf der Ebene des Orientierungswissens helfen sie, die heutigen Auswirkungen und Folgen des Bausektors sowie die zukünftigen Potenziale und Herausforderungen zu berücksichtigen.
Auf der Ebene des transformativen Wissens helfen Reallabore, ein Verständnis für Instrumente und Mechanismen zu erlangen, die zur Förderung des Wandels im Bausektor eingesetzt werden müssen.


© Natural Building Lab

Experimentieren durch gebaute Prototypen und ko-produktive Prozesse als zentrales Forschungsthema

Für Reallabore ist es entscheidend, Transformationsprozesse durch die Entwicklung und Erprobung von Lösungen zu erforschen und auszulösen – mit anderen Worten: Experimentieren [2 – Vgl. Schaepke et. al]. Die jeweiligen “Realexperimente” sollen nicht die Sonderwelt wissenschaftlicher Laboratorien nachbilden, sondern die Unberechenbarkeit der Gesellschaft repräsentieren. Im Bausektor können Reallabore durch gebaute Prototypen und ko-produktive Planungsprozesse eine experimentelle Komponente enthalten. Monitoring- und Bewertungsinstrumente sind in diesem Bereich zu einer entscheidenden Komponente geworden und integrale Bestandteile eines iterativen Wissensgewinns durch Experimentieren. Durch gezieltes Testen und Verbessern von z.B. Baumaterialien, Bautechniken oder Prozessformaten in der Anwendung wird eine Verbesserung in Bezug auf spezifische Forschungsfragen erreicht.

© Matthew Crabbe, Natural Building Lab

Transdisziplinäre Planungsprozesse als zentrale Forschungsmethode

In Reallaboren arbeiten Akteur:innen mit unterschiedlichem Hintergrund zusammen, um anwendbare und wissenschaftlich fundierte Lösungen für Nachhaltigkeitsprobleme des Bausektors zu entwickeln und dabei wissenschaftliche Ergebnisse und Erkenntnisse zu gewinnen. Die Kernanforderungen an den transdisziplinären Forschungsmodus von Reallaboren [3 – Vgl. Lang et al.] mit Fokus auf den Bausektor können unter drei Kategorien zusammengefasst werden: Der Fokus auf Themen von gesellschaftlicher Bedeutung, die Ermöglichung eines wechselseitigen Lernprozesses der beteiligten Akteur:innen, sowie die Schaffung eines gesellschaftlich robusten, lösungsorientierten Wissens, das den Bausektor mit Fragen von gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Relevanz verknüpft.

© Selina Schlee, Natural Building Lab

Übertragbarkeit von Reallabor Erkenntnissen durch Reflexion und Lehre

Reallabore im Planen und Bauen zielen darauf ab, durch konkrete Beiträge oder Interventionen zu einer Sektor-Transformation in Richtung Nachhaltigkeit beizutragen. Diese Prototypen sind meist mit einer langfristigen Perspektive angelegt und in langfristige Prozesse eingebettet. Sie bleiben bestehen, auch wenn das zugehörige Forschungsprojekt endet. Die Schnittstelle zwischen akademischen und nicht-akademischen Kontexten erfordert in der Regel, die Einbettung der Projekte in Netzwerke von unterstützenden Akteur:innen, das Schaffen einer finanziellen Unterstützungsstruktur sowie notwendigen rechtlichen Regelungen und die Integration in universitäre Strukturen. So bieten Reallabore ein langfristiges Erprobungs- und Entwicklungsfeld für Forschende, Praktizierende, Lehrende und Studierende, wenn die Evaluation und Reflexion eine übergeordnete Rolle spielt.

© Matthew Crabbe, Natural Building Lab

Literaturliste

Schaepke N, Stelzer F, Bergmann M, Singer-Brodowski M, Wanner M, Caniglia DJL 2017Reallabore im Kontext transformativer Forschung. Ansatzpunkte zur Konzeption und Einbettung in den internationalen Forschungsstand. No. 1/2017 (Leuphana Universität Lüneburg, Institut für Ethik und Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung):75.

Newig J, Jahn S, Lang DJ, Kahle J, Bergmann M. 2019 Linking modes of research to their scientific and societal outcomes. Evidence from 81 sustainability-oriented research projects. Environmental Science & Policy. 101:147–55.

Parodi O and Steglich A 2021 Reallabor in Schmohl T and Philipp T Handbuch Transdisziplinäre Didaktik Hochschulbildung: Lehre und Forschung 255–65

United Nations Environment Programme. 2021 Global Status Report for Buildings and Construction: Towards a Zero-emission, Efficient and Resilient Buildings and Construction Sector. Executive Summary. Nairobi; 2021.

Bergmann M, Schäpke N, Marg O, Stelzer F, Lang DJ and Bossert M, et al 2021 Transdisciplinary sustainability research in real-world labs: success factors and methods for change. Sustain Sci. Mar 1;16(2) 541–64

WBGU – Wissenschaftlicher Beirat für Globale Umweltveränderungen 2016 Humanity on the move: Unlocking the transformative power of cities Flagship report 514

Grunwald A. 2015 Transformative Wissenschaft – eine neue Ordnung im Wissenschaftsbetrieb? GAIA – Ecological Perspectives for Science and Society. 1;24(1):17–20.

Schneidewind U and Scheck H 2013 Die Stadt als „Reallabor“ für Systeminnovationen Soziale Innovation und Nachhaltigkeit: Perspektiven sozialen Wandels Springer Fachmedien Wiesbaden 229–48

Sandercock L. 2003 Cosmopolis II: Mongrel Cities of the 21st Century. Bloomsbury Academic;

Lang DJ, Wiek A, Bergmann M, Stauffacher M, Martens P, Moll P, et al. 2012 Transdisciplinary research in sustainability science: practice, principles, and challenges. Sustainability Science.1;7(1):25–43.

De Flander K, Hahne U, Harald Kegler, Lang D, Rainer L and Scheidewind U, et al. 2014 Resilience and Real-life Laboratories as Key Concepts for Urban Transition Research. 12 Theses. GAIA. 2014 23/3 284–6

Federal Ministry for Economic Affairs and Energy (BMWi) Public Relations 2019 Making space for innovation. The handbook for regulatory sandboxes. [Internet] A vailable from: https://www.bmwi.de/Redaktion/EN/Publikationen/Digitale-W elt/handbook-regulatory-sandboxes.pdf?__blob=publicationFile&v=2

Wedell P, Albert D and Schäfer-Stradowsky S 2018 Die Reallabor-Methode in der Anwendung 1-6

Die Bundesregierung 2021 Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP) [Internet] Available from: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/1990812/04221173eef9a6720059cc3 53d759a2b/2021-12-10-koav2021-data.pdf?download=1

With: Kim Gundlach, Matthew Crabbe, Nina Pawlicki, Eike Roswag-Klinge, Sina Jansen